Wie wollen wir es denn nennen, was die Gruppe Da Cruz hier in die Welt wuchtet? Tropical New Wave? Urban Brazilian Disco? Oder Samba Subversiva? Egal. Mit den landläufigen Brasilien-Klischees hat es jedenfalls nichts zu tun; keine Federkostüme, keine Trillerpfeifen, keine gelb-grüne Nostalgie. Da Cruz beschreibt ein anderes Brasilien. Ein Brasilien, das auf die Strasse geht, das nicht mehr im alten Fahrwasser schwimmen mag und nicht mehr mit Fussball und Karneval ruhiggestellt werden will. Da Cruz liefert die Tonspur für ein Land, das zwischen Unbeschwertheit und Aufbruch schlenkert, zwischen Party und Revolution. Da Cruz prangern beileibe nicht nur an, in der ersten Single „ Bola da Discoteca“ versammeln sich alle unter der Discokugel, um eine gute Zeit zu haben, ganz nach dem Motto: Vor dem Tod und unter der Discokugel sind alle Brasilianer gleich.
Am 11. April 2014 wird unter dem Titel „Disco e Progresso“ eine Doppel-CD der in Bern stationierten Band um die brasilianische Sängerin Mariana Da Cruz erscheinen. Warum eine Doppel-CD? „Weil es nicht anders möglich war, die ganze Zerrissenheit dieses Landes adäquat zu reflektieren“, sagt Die Sängerin Mariana Da Cruz.
CD 1 – „Bright Side“ widerspiegelt die unbeschwertere und poppigere Seite von Da Cruz. Hier streift die Band die brasilianische Disco-Musik der 70er-Jahre, den Bossa Nova, und – warum auch nicht – die brasilianische Soft-Porno-Musik der 70s. Es gibt zynischen südamerikanischen Ragga („Cansado de São Paulo“) und eine Ballade, die Mariana Da Cruz zu Ehren der verstorbenen Sängerin Cesaria Evora geschreiben hat („Boa“). Und es findet sich auf dieser Seite die einzige Coverversion „Campari Soda“, ursprünglich von der Schweizer Gruppe Taxi.
Auf CD 2 – „Dark Side“ gibt es dann den Soundtrack zu den Tumulten. Sie ist deutlich elektronischer geprägt, hier wird New Wave neben Elektro-Kuduro gestellt.
Die Themen, die Mariana Da Cruz in ihren Texten seit jeher aufgreift, haben in den letzten Monaten eine brenzlige Aktualität erhalten: „Seit ich denken kann, wird der Jugend in Brasilien der Aufstieg zur Wirtschaftsmacht in Aussicht gestellt, doch passiert ist nichts“, sagt Mariana Da Cruz, die seit zehn Jahren in der Schweiz lebt. „Es verwundert mich nicht, dass die Leute langsam ungeduldig werden. Brasilien befindet sich stets eine Bohrinsel vom Durchbruch entfernt, als ob es nicht aussichtsreichere Ressourcen in diesem Land gäbe.“ Auch sie gehöre zu dieser Generation der Desillusionierten, die genug hat, von ewigen Versprechen, sagt sie. Irgendwann hat sie ihr Schicksal selber in die Hand genommen. Dafür hat sie ihr sicheres Leben in Brasilien einem zunächst eher prekären in Europa geopfert. „Hauptantrieb war die Neugier, die gleiche Neugier, die mich auch musikalisch herumtreibt“, wie sie sagt.
Mariana Da Cruz ist kein Kind der brasilianischen Bourgeoise, und auch kein Tropicalista-Hipster-Hippie-Kind. Die sechste Tochter eines Kochs und einer Baumwollpflückerin ist in einfachsten Verhältnissen im Umland von São Paulo aufgewachsen. Für Musikunterricht oder für eine Plattensammlung blieb kein Geld, „aber gesungen wurde viel in unserer Familie“, erzählt Mariana Da Cruz. „Meine Mutter war eine passionierte Radiohörerin und eine begnadete Sängerin. Mein ganzes Wissen über die brasilianische Musik stammt von ihr und von einem alten knisternden Radioapparat der in unserer Küche in Paranapanema stand.“ Mit 17 haut sie aus der Provinz ab, bildet sich zur Lehrerin aus und finanziert ihr Studium mit Auftritten als Sängerin in der Stadt Campinas. „Doch irgendwann war ich es leid, die Bossa-Nova-Jukebox zu geben. Ich liebe all die alten Lieder, doch ich war nie jemand, der gerne zurückblickt.“
Also blickte sie nach vorn. Eines Tages wandert sie nach Lissabon aus, sie wollte mehr von der Welt sehen, sagt sie. Hier lebt, arbeitet und singt sie drei Jahre lang, bis eines Tages ein sonderbarer Herr nach einem Auftritt an sie tritt. Er heisst Ane H. und ist der einstige Sänger und Programmierer der Industrial-Pioniere Swamp Terrorists. Er ist auf der Suche nach einer Stimme für ein neues Projekt. Im Jahr 2001 ist Da Cruz geboren. Später stossen der Berner Gitarrist Oliver Husmann und der Swamp-Terrorists-Schlagzeuger Pit Lee zur Band. „Da Cruz ist die Kollision diverser auf den ersten Blick unvereinbarer Elemente“, erklärt Mariana Da Cruz. Sie kommt von der traditionellen brasilianischen Musik, während Ane H. seine Seele zu Suicide aufgeschürft, zu Fela Kuti getanzt, und zu den Swans die Haupthaare geschüttelt hat. „Und unser Gitarrist ist ein Hippie, der lange in Brasilien gelebt hat, dem man bloss eine Gitarre um den Hals hängen muss, und schon kommt etwas Spannendes heraus. Irgendwie hats gefunkt in dieser Versuchsanordnung.“
Nach den beiden Alben „Nova Estação“ und „Corpo Eletrico“, die grosses Presse-Echo ausgelöst haben und in über 30 Territorien lizenziert wurden, erschien 2011 das dritte Da-Cruz-Album „Sistema Subversiva“ auf dem amerikanischen Label Six Degrees Records (The Dø, Bebel Gilberto, The Orb). Viel ist seither geschehen. Da Cruz thronte über Monate in den Top Ten der amerikanischen College Radio Charts (Peak: Platz 3), Sender wie die legendäre amerikanische Station KCRW haben Da Cruz in Heavy Rotation gespielt. Zeitungen wie der britische „Independent“ waren des Lobes voll, und Da Cruz spielte in den angesagtesten Clubs zwischen São Paulo und Paris.
Nun wird mit „Disco e Progresso“ eine neue Stufe gezündet. In der ganzen Brisanz der Thematik, haben Da Cruz 20 ausgelassene, wütende und doch geschmeidige Songs geschrieben. Man wird viel hören von Brasilien, im Jahr 2014. Und Da Cruz halten den Soundtrack dafür bereit.